Moment mal!
Wer den Weg der Achtsamkeit wählt, begibt sich auf eine Entdeckungs-Reise ins Innere. Die Texte und Hinweise in diesem Blog befassen sich mit Erfahrungen und Fragen, die Dir auf dieser Reise begegnen werden.
Neuroplastizi...wie bitte?
Zugegeben: Der Begriff ist sperrig und er kann Assoziationen mit Unangenehmem wecken. Mit etwas Künstlichem. Oder mit dem nächsten Zahnarzttermin.
Aber hinter «Neuroplastizität» verbirgt sich eine äusserst bemerkenswerte Fähigkeit, die wir Menschen exklusiv besitzen: Wir können unser Gehirn schrittweise und bewusst verändern. Und wir können uns diese Formbarkeit – oder eben Plastizität – des Gehirns zu Nutze machen, um sehr gezielt positive Eigenschaften wie etwa Resilienz, Zufriedenheit oder Mut aufzubauen und zu verinnerlichen.
Das ist kein esoterischer Klimbim, sondern fusst auf wissenschaftlichen Tatsachen. Auch als Erwachsene können wir neue Verbindungen im Gehirn anlegen und neue Fähigkeiten lernen. Die Fitness des Gehirns lässt sich mit speziellen Übungen trainieren, ähnlich wie die des Körpers mit regelmässigem Sport.
Training für die Gehirn-Fitness
So wie wir beim Sport entscheiden, welche Muskeln wir trainieren, können wir uns mit Positiver Neuroplastizität auf die Stärkung jener innerer Ressourcen fokussieren, die wir uns wünschen.
Nehmen wir das fiktive Beispiel einer erfahrenen und zuverlässigen Mitarbeiterin einer PR-Agentur. Luana ist 35jährig und könnte aufgrund ihrer Qualifikationen und Fähigkeiten problemlos in einer Kaderfunktion Verantwortung übernehmen. Und eigentlich wünschte sie sich das. Aber Luana hat ein Problem: Sobald sie in direkten Gesprächen mit Vorgesetzten oder in Team-Meetings ihre Ideen vertreten soll, wird sie innerlich von Ängsten geflutet. Sie beginnt zu schwitzen, ihr Körper verspannt sich und sie bringt kaum noch ein Wort über die Lippen. Schon oft musste sie deshalb erleben, wie andere die Lorbeeren für sie einheimsen.
Schlüsselstärke erkennen
Luana beschliesst, das zu ändern - mit Hilfe der Positiven Neuroplastizität. Zuerst gilt es herauszufinden, welche Schlüsselstärke ihr in den konkreten Situationen, in denen sie immer wieder scheitert, helfen würden. Welche psychologische Ressource wäre der game changer? - In den Übungen des Positiven Neuroplastizität Trainings erkennt Luana, dass ihr Schlüssel zur Lösung ein stärkeres Selbstwertgefühl ist. Wie zentral diese Einsicht ist, lässt sich am Vergleich mit einem Velo verstehen, das einen platten Reifen hat. Das einzige, was dann wirklich hilft, ist eine Pumpe. Und nicht ein Schraubenzieher oder Kettenöl.
Luana weiss, dass sie in anderen Bereichen des Lebens auf ihr Selbstwertgefühl bauen kann. Aber immer, wenn sie bei der Arbeit für ihre Interessen einstehen soll, ist da eine innere Stimme, die ihr einredet, sie sei zu wenig gut. Sie verdiene gar nicht mehr Verantwortung und ein höheres Gehalt. Das ist eine automatische Reaktion, ausgelöst durch die Negativitäts-Tendenz des menschlichen Gehirns: Es speichert negative Erfahrungen schnell und nachhaltig, während positive viel weniger Spuren im Langzeitgedächtnis hinterlassen.
Im Beispiel von Luana waren es vielleicht negative Erfahrungen im Elternhaus oder in der Schule, die sich früh im Gedächtnis eingegraben haben. Erfahrungen, die sie getroffen oder beschämt haben.
Positive Erfahrungen bewusst speichern
Was für Luana jetzt zählt, sind Techniken, um das alte negative Material Schritt für Schritt zu reduzieren und allmählich durch positives zu ersetzen. Sie beginnt, Erfahrungen im Alltag, in denen sie bereits Selbstwertgefühl empfindet, bewusst wahrzunehmen und sorgt dafür, dass diese länger im Gewahrsein verbleiben. Dann lässt sie diese Erfahrungen auch auf emotional und körperlich tief in sich einsinken. Luana sorgt so dafür, dass viele ihrer Hirnzellen (Neuronen) gleichzeitig feuern und sich verbinden können. Das heisst, die positive Erfahrung des Selbstwerts wird nicht nur im Kurzzeitgedächtnis gespeichert und verflüchtigt sich wieder, sondern sie wird gefestigt und im impliziten Teil des Gedächtnisses abgelegt.
Luana bringt so dem Gehirn gleichzeitig bei, wie es generell aus positiven Erfahrungen lernen kann und schwächt damit dessen Negativitäts-Tendenz ab. Über Jahrtausende setzte das Gehirn den Fokus auf das Vermeiden von Gefahren. Das Überleben der Spezies Mensch zu sichern, war seine Hauptaufgabe, nicht den einzelnen Menschen glücklich zu machen.
Je öfter und intensiver Luana ihre Hirnzellen beim bewussten Erleben von Selbstwert aktivieren kann, umso beständiger werden diese sich verdrahten. So wird aus hilfreichen aber flüchtigen Zuständen nach und nach ein bleibender Wesenszug. Ein Selbstwertgefühl, auf das sie auch im Beruf wird zählen können. (04/23)
Die Heldin reist - und meditiert
"Schreiben ist vermutlich die einzige Tätigkeit, die man nicht achtsam machen kann", sagt Doris Dörrie, als sie sich am dritten Tag des Retreats zu uns ins Zendo setzt. Wer schreibt - und hier ist auto- biografisches Schreiben gemeint - muss sich erinnern. Und das geht nun mal nicht, ohne im Geist zurück in die Vergangenheit zu gehen. Bye bye, Gewahrsein im Moment!
Aber auch so haben Meditation und Creative Writing noch genug Gemeinsamkeiten. In den Worten unserer Zen-Lehrerin Beate Stolte Genko geht es hier wie da um einen Prozess des Dabeibleibens, des Schälens. Bei beidem sei es zentral, alle Erwartungen an Qualität loszulassen.
Doris Dörrie, der Filmemacherin und Autorin von Bestsellern wie "Die Heldin reist", gelingt es wunderbar, uns mit ihren Schreibübungen in tiefere Ebenen des Gewahrseins zu führen, wo der Geistesinhalt zunehmend unstrukturiert ist. Aus diesen Tiefen tauchen dann Bilder und sinnliche Details auf, die sich unversehens in Worte auf Papier verwandeln. Roh, ungefiltert, bewegend.
"Wer bist du, wenn dir keiner zuschaut?", lautete der Titel des Retreats im Felsentor, hoch oben auf der Rigi. Ein paar Antworten habe ich schon gefunden, beim vielen Meditieren im japanisch anmutenden Zendo und dem Tauchen nach meinen eigenen "Heldenreisen". (8/ 22)
Meditation ist nicht, was du denkst
Das Buch des Neurowissenschaftlers Ulrich Ott habe ich vor drei Jahren erstmals gelesen. Ich nehme es immer wieder zur Hand, wenn ich kompetent daran erinnert werden will, was beim Meditieren Sache ist.
"Hier geht es (...) darum, wie Sie mit Meditation Ihr Bewusstsein selbst erforschen und verändern können", heisst es am Anfang. Ott erläutert anhand diverser Meditationstechniken anschaulich, wie wir aus alten Mustern ausbrechen und uns für Verhaltensweisen entscheiden können, die geprägt sind von Wohlwollen, Humor und Kreativität. Er beleuchtet die Verbindung körperlicher Empfindungen mit emotionalen Reaktionen, die Tendenz, sich mit dem inneren Gedankenstrom zu identifizieren und die tiefgreifenden Erfahrungen, die Meditation auslösen kann.
Baldrian für den inneren Skeptiker ist die wissenschaftliche "Rückendeckung" des Buchs: Jedes Kapitel beginnt mit dem aktuellen Forschungsstand. Im hinteren Teil widmet sich Ott ganz der wissenschaftlichen Vertiefung und erklärt, was alles im Gehirn passiert, während man meditiert. (10/21)
Aus anderer Perspektive
Das erste Mal seit über zehn Jahren gehen Stefanie und ich als Teilnehmer gemeinsam an ein Retreat. Wir reisen dafür mit dem Zug in den Norden, weil wir auf der dänischen Insel Møn ein Angebot gefunden haben, das Yoga & Achtsamkeit kombiniert. Es ist genau die Kombination, die wir als yomin seit letztem Jahr auch anbieten. Wie bei unserem eigenen Retreat geht es hier um sieben Uhr morgens los. Wir meditieren am Strand. Vor uns das spiegelglatte Meer, im Gesicht die kühle Morgenluft. Ein Auftakt wie gemalt vor der langen Yoga-Session, die darauf folgt. In gefestigter Konzentration können wir die Asanas noch präziser ausführen. Sie werden zusehends zu Meditation in körperlicher Aktion. Was Eve Holbrook und Michael Morphis mit uns anstellen, funktioniert bestens.
Die achtsame Verbindung von Geist und Körper erzeugt Lebendigkeit und tiefe Ruhe zugleich. Geist und Körper kommen in Einklang. Nach einer mehrstündigen Pause leitet eine regenerative Yoga-Klasse den Abend ein, der mit Erläuterungen zu Achtsamkeit und Meditation zu Ende geht. Die Tages-Struktur des Retreats unterscheidet sich kaum von den unsrigen. Die persönlichen Elemente, die Eve und Michael einbringen, sind eine schöne Inspiration - für unser nächstes yomin-Retreat im Februar in Marokko. (08/22).
Glücklich dank Achtsamkeit?
Interview mit Jon Kabat-Zinn in der Sternstunde Philosophie von SRF (2015). Der Arzt und Molekularbiologe Jon Kabat-Zinn hat das MBSR-Programm Ende der 70er-Jahre an der Universitätsklinik in Massachusetts/USA entwickelt. Dank seinen umfangreichen begleitenden Forschungen hat sich MBSR seither weltweit in Kliniken, Bildungseinrichtungen und sozialen Institutionen etabliert. Im Gespräch erläutert Kabat-Zinn, was Achtsamkeit bedeutet, welche Auswirkungen sie auf Geist und Psyche hat und wie sie sein eigenes Leben prägt.
Die Kraft der Meditation
Der Dokumentarfilm von Arte konzentriert sich auf jene Auswirkungen von Meditation auf die physische und psychische Gesundheit, die wissenschaftlich belegt sind. Dazu gehört neben der Regulierung der habituellen Stress-Reaktion und des damit verbundenen Kortisol-Spiegels auch der erstaunliche Einfluss auf die Zellalterung, ein zentraler Mechanismus des Organismus. Die Aussagen von Forscherinnen und Meditierenden im Film legen nahe, dass Meditation eine Art Türöffner zur inneren Apotheke darstellt.
Im Fluss des Lebens
Endlich geschafft! Nach zwei Tagen gespannten Wartens im indischen Millionenmoloch Pune, sitze ich dem Mann gegenüber, über den ich einen Dokumentarfilm drehen möchte. B.K.S. Iyengar, einer der wichtigsten Yoga-Meister des 20. Jahrhunderts. Der Mann, der in den 1950er-Jahren durch Europa reiste und mit seinen Yoga-Demonstrationen den Grundstein für den heutigen Boom legte. Eine lebende Legende.
Jetzt gerade wirkt Herr Iyengar ziemlich müde. Von aussen dringen Lärm und Abgase in sein winziges Büro. Hinter ihm stehen seine Bücher hinter verglasten Türchen, geschützt vor Russ und Staub. - Ein Film mit ihm? Das findet der bald 90-Jährige keine gute Idee. Das Drehen mache ihn jedesmal krank. Aber da ich nun mal hier sei - und wohl auch, weil sich eine seiner frühsten Schweizer Studentinnen für mich einsetzte - gibt er sich grosszügig. "Du kannst die nächsten Tage im Institut alles filmen. Aber dann musst du nicht mehr kommen", verkündet er mit strengem Blick, dem die sagenhaften Augenbrauen gleich mehrere Ausrufezeichen hinzufügen.
Klar, ich bin erst mal enttäuscht, da ich nur eine kleine Kamera für Probeaufnahmen dabei habe. Doch die folgenden vier Tage werden ein unvergessliches Erlebnis. Hunderte von Studenten aus der ganzen Welt lassen sich am Institut zu Lehrern im Iyengar-Yoga ausbilden. Eine harte Schule, die auch meine Frau Stefanie durchlaufen hat. Die indischen Ausbildner lassen die Studenten minutenlang in Asanas verharren, die mir schon vom Zuschauen Schmerzen bereiten. Die Anweisungen ähneln militärischem Drill. Aber wer das hier durchsteht, der unterrichtet nachher eben mit der Präzision und Achtsamkeit, welche die Iyengar-Methode auszeichnet.
Der Mann in der eierschalenfarbenen Kurta und der schweren Kette um den Hals hat seine Methode über Jahrzehnte so entwickelt, dass Jeder und Jede die klassischen Körperübungen so ausführen kann, dass sie nützen und nicht schaden. Dass er das genauso meint, zeigen Iyengars tägliche Therapie-Klassen für kranke und beeinträchtige Menschen. Da hängen die Einen kopfüber an Seilen oder liegen am Boden mit schweren Gewichten auf dem Körper. Andere sehen ihre Gliedmassen mit Gurten in Position gezurrt oder mit Decken und Holzblöcken gestützt. Und dazwischen schwirrt der Meister himself umher und gibt seinen senior teachers Anweisungen für jeden Patienten. Ob Bandscheibe, Gelenkverformung, Diabetes oder schwierige Schwangerschaft: Yoga kann allen helfen. Keiner weiss das, so gut wie Iyengar selbst, der in der Jugend immer wieder schwer krank war.
Am dritten Tag zupft mich dann unvermittelt Pandu, die rechte Hand Iyengars, am Ärmel. Der Meister sei nun doch für ein Interview zu haben. Er werde genau eine Frage beantworten. Ich zermartere mir darüber in der Nacht vergebens den Kopf. Es gibt dann nämlich kein Halten mehr, als ich ihm zum zweiten Mal gegenüber sitze. Und je mehr er erzählt, umso strahlender wird sein Blick. Die buschigen Brauen schweben nun leicht wie Federwolken darüber. (03/2006)